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Drei Leseproben

Bahn.Hof. PDF

Der Anfang. Trubschachen, Bahnhof, Mittwoch, 27. April 1988.
Wie es Louis‘ Vater ins Emmental verschlägt. Und wie die «Schächeler» – die Bewohner von Trubschachen – mit dieser Tatsache fertigwerden.

Nichts als Sand, so weit das Auge reicht, nichts als Sand, nichts als nichts.

Als er das Läuten der Bahnschranke beim Dorfeingang hört, klappt der Stationsvorstand Jakob Leibundgut das in Packpapier eingeschlagene Buch abrupt zu und schaut erschrocken auf die Uhr: «Herrgottdonner, schon 17.42!» Eilig setzt er seine rot-schwarze Dienstmütze auf, sammelt notdürftig seine Amtswürde, stürzt aus dem Stationsbüro und aufs Perron, um den 17.43er (Regionalzug SBB Nr. 1775, Lok Ae 4/4, 7 Wagen 2. Klasse, 1 Wagen 1. Klasse, 1 Gepäckwagen) abzufertigen. Noch nie ist er zu spät gekommen, noch jedes Mal stand er auf dem Perron, wenn ein Zug einfuhr, er, Jakob Leibundgut (23 Dienstjahre, 15 davon als Stationsvorstand von Trubschachen). Heute hat es gerade noch gereicht. «Dieser Schlaumeier, der Karl May», denkt er, «der wird mir noch mal zum Verhängnis.»

Der Zug hält, die üblichen zwölf Passagiere steigen aus, die meisten auf dem Heimweg von der Arbeit, von der Schule, vom Einkaufen, vom Arzt. Jakob Leibundgut will den Zug bereits freigeben, die Hand mit der Pfeife geht bereits zum Mund. Es ist die Ordonnanzpfeife SBB Nr. 23-4889/CF-57; die Handhabung der Pfeife sowie die Signale sind festgehalten im Regelwerk SBB QRX-12/88, Nov. 1957. Dass in diesem Handbuch der Erfinder dieses klassischen Musikinstruments mit keinem Wort erwähnt und gewürdigt wird, ist ein Skandal. Der Autor hofft, dass die Erwähnung dieses Missstandes an dieser Stelle zu einer Rehabilitierung und gebührenden Würdigung dieses bemerkenswerten Mannes – wenn es nicht gar eine Frau gewesen ist – führen wird, sei es, dass die Bundesbahnen selbst gegensteuern und das Handbuch entsprechend ergänzen werden, sei es, dass sich die Presse dieses Skandals annimmt.

Da taucht in der Tür von Wagen 2 ein letzter Passagier auf. Er bleibt auf dem obersten Tritt stehen, einen zusammengelegten Regenmantel über dem Arm und eine rosafarbene Reisetasche mit hellblauem Blumenmuster in der Hand, mit der andern Hand beschattet er die Augen, obwohl um diese Zeit die Sonne am Bahnhof Trubschachen schon lange nicht mehr scheint. Mit grosser Geste schaut er sich um, schaut links, dann rechts, wieder links. Was er sieht, scheint ihm zu gefallen, jedenfalls nickt er zufrieden, fährt aber fort, sich umzuschauen.

Der Stationsvorstand sieht dem Mann verblüfft zu, dann beendigt er die angefangene Handbewegung, steckt die Pfeife in den Mund und bläst Signal «cf lang f kurz»: Abfahrt in zehn Sekunden.

Der Mann schaut sich immer noch um wie ein Schauspieler in einem Film.

«Manno, entscheidet Euch, wollt Ihr aussteigen oder nicht? Wir haben nämlich einen Fahrplan einzuhalten!», ruft der Stationsvorstand.

Im Jahr 1987 trafen 93 Prozent aller SBB-Züge pünktlich an ihrem Zielbahnhof ein; unter «pünktlich» verstehen die SBB den Zeitraum von der geplanten Zugsankunft bis zum dritten Sprung des Minutenzeigers, haben doch die Schweizer Bahnhofsuhren die neckische Gewohnheit, dass sich der Minutenzeiger nicht kontinuierlich bewegt, sondern von Minute zu Minute hüpft, während der Sekundenzeiger mit der roten Kelle seinen Lauf nach jeder Umdrehung einen Moment auf der Zwölf unterbricht.

Der Mann scheint aus einem Traum zu erwachen und steigt dann gemächlich und würdevoll die vier Stufen hinab, dreht sich um, erteilt dem Zug mit einer Handbewegung die Freigabe – worauf sich der prompt in Bewegung setzt – und wendet sich dem Stationsbüro zu.

Leibundgut kratzt sich unter der Mütze, zuckt die Achseln und folgt dem Mann zum Stationsbüro. Als er sieht, dass dieser einfach hineingeht, beschleunigt er seinen Schritt, eilt ihm nach, am Schluss rennt er beinahe. Das darf doch nicht wahr sein, das gibt es doch nicht, geht der Kerl einfach in sein Stationsbüro.

Drinnen hat der Mann seinen Regenmantel bereits über den Weichenhebel Nr. 5 gelegt und schaut sich auf dem Stellwerkspult den Streckenabschnittsplan Langnau–Trubschachen–Escholzmatt an. «Interessant», sagt er und fährt mit dem Finger der Strecke entlang.

«Nichts drücken!», ruft Leibundgut. «Was macht Ihr denn hier drinnen? Das ist verboten. Geht es denn noch. Geht sofort hier raus! Wenn Ihr etwas wollt, könnt Ihr euch dort drüben am Schalter anstellen. Der schliesst aber in sieben Minuten, Ihr beeilt euch besser etwas.» Leibundgut muss mal Luft holen. Er hat schon einen hochroten Kopf.

Der Mann hingegen bleibt ganz ruhig. «Schalter sind so unpersönlich», sagt er. «Durch kleine Löcher in einer Glasscheibe kann man doch kein Gespräch von Mann zu Mann führen. Das ist ja fast wie im Gefängnis. Als ob ich Ihr Anwalt wäre, der Sie im Gefängnis besucht. Das wollen Sie doch nicht. Also reden wir hier. Setzen Sie sich. Sehen Sie diese Reisetasche, das ist ein Problem, die gehört nämlich nicht mir.»

«Das sehe ich», sagt Leibundgut, «das ist doch eine Damentasche.»

«Genau», sagt der Mann, «meine ist nämlich hellblau mit rosafarbenen Blumen.» Er lacht. «Nein, meine ist eine braune Ledertasche. Aber da war diese Dame im Zug. Sie sass im gleichen Abteil wie ich. Wir haben uns unterhalten, gut unterhalten, als sie plötzlich merkte, dass sie in Bowil aussteigen sollte, mit einem Schrei ihre Tasche packte, zum Ausgang lief und aus dem soeben anfahrenden Zug sprang, echt artistisch, und mit hohen Absätzen und Kostüm und Hut, wirklich, hat mir gefallen. Bis ich gesehen habe, dass sie mit meiner Tasche ausgestiegen ist. Und da steh ich nun mit dieser unmöglichen Tasche und habe einen wichtigen Termin im Dorf. So wollte ich fragen, haben Sie hier Schliessfächer, wo ich diese Tasche einschliessen kann, bis ich wieder abreise?» Er lässt den Blick durch den Raum schweifen. «Ach, das gibt es natürlich nicht auf einem Kleinbahnhof, spielt keine Rolle», sagt er. «Kommst du halt mit», sagt er zur Tasche. Sein herumschweifender Blick macht nun Halt auf dem in Packpapier eingebundenen Buch.

Leibundgut wird es noch heisser, als ihm ohnehin schon ist. Nun ist er entlarvt.

Der Blick des Fremden leuchtet auf. Offenbar erkennt er das Buch am Format. Entweder ist das eine Bibel oder ein Karl May. Na, eine Bibel wird es wohl nicht sein, also ist es Karl May. «Welcher denn?», fragt er und öffnet ungeniert das Buch. «Unter Geiern», sagt er laut und dann: «Sand, so weit das Auge reicht nichts als Sand, der Geist des Llano Estacado im weissen Büffelfell.»

«Wo steckt er denn gerade, der Old Shatterhand?», fragt er.

Und da bricht der Widerstand von Jakob Leibundgut zusammen. «Old Shatterhand reitet in den Llano Estacado», sagt er.

Nun sah man Sand und überall Sand, nur zuweilen unterbrochen von einer Grasinsel. Über andere Stellen legten Beifussarten einen grauen Mantel. So ging es weiter und weiter. Über zwei Stunden waren vergangen, seit die drei Reiter Helmers’ Home verlassen hatten. Wenigstens fünfzehn englische Meilen hatten sie dabei zurückgelegt, und doch wollte es ihnen nicht gelingen, den Vorsprung, den der Verfolgte hatte, einzuholen. Da bemerkten sie einen dunklen Streifen, der sich von links her spitz in die sandige Ebene schob.

«Aha», sagt der Fremde, «dann trifft Old Shatterhand den Dick»«Nicht verraten, nichts verraten!», unterbricht ihn der Bahnhofvorstand, «ich will das selber lesen. Seid Ihr denn auch Karl-May-Leser?», fragt er den Fremden.

Der steckt zwei Finger in den Mund und lässt einen lang gezogenen, trillernden Pfiff hören.

Es ertönte keine Antwort. «Sie sind zu sehr überrascht», meinte er. «Also noch einmal!»

Der Fremde wiederholt den Pfiff, und kaum ist das geschehen,

so erklang eine laute Stimme: «Hallo! Was ist denn da los? Dieser Pfiff in dem einsamen Llano Estacado! Sollte es möglich sein? Old Shatterhand, Old Shatterhand!» – «Ja, er ist’s!», rief eine andere jubelnde Stimme. «Geh voran! Ich komme auch. Er ist’s!» Es prasselte in den Büschen und dann brachen die beiden Trapper hervor, Davy voran und Jemmy hinterher.

Sie eilen auf Jakob Leibundgut zu und umarmen ihn, einer von vorn, der andere von hinten.

«Halt, Boys, drückt mich nicht tot!»,

wehrt der Bahnhofvorstand sie von sich ab,

«ich will mich wohl gern umärmeln lassen, aber einzeln, einzeln, nicht von zwei solchen Bären, wie ihr seid, zu gleicher Zeit!»,

sagt er. Woher sind ihm diese Worte zugeflossen, was zitiert er da?

Der Bahnhofvorstand erwacht, schaut sich um. Er ist allein in seinem Stationsbüro, der Mann ist weg, die beiden Trapper sind weg, nur das Buch liegt noch da, aufgeschlagen auf Seite 423. Er liest laut vor sich hin:

«Aber wie kommen Sie denn auf den Gedanken zu pfeifen? Wussten Sie, dass wir da hinter dem Gebüsch steckten?» – «Jawohl. Ihr seid mir die richtigen Westmänner! Lasst euch beschleichen und beobachten, ohne das Geringste zu merken!» Jetzt war auch Eisenherz, der junge Komantsche, herbeigekommen und trat zwischen den Sträuchern hervor.

Leibundgut schaut sich vorsichtig um, aber da ist kein Indianer in seinem Stationsbüro. «Uff», stöhnt er. Dann lacht er auf, fährt sich mit der Hand übers Gesicht, reibt, reibt, bis er das Gefühl hat, wieder der echte Leibundgut zu sein. «Dieser Karl May», sagt er. Aber wo ist der Fremde? Er tritt aus dem Stationsbüro. Auf dem Perron ist niemand. Er geht zur Ecke. Auf der Bahnhofstrasse sieht er ihn davonschlendern, die Tasche unterm Arm, die Hände in den Hosentaschen geht er. «Leicht», denkt Leibundgut, «leicht wie ein Indianer. Aber Indianer haben die Hände nicht in den Hosentaschen, und Indianer pfeifen auch nicht.» Dass der Mann pfeift, hört er zwar nicht, aber man sieht es. Das sieht man auch von hinten. «Ein Westmann», denkt Leibundgut, «hier im Dorf», und ahnt nicht, dass er diesem Individuum schon bald wieder begegnen wird und dass das soeben die erste Begegnung mit seinem zukünftigen Schwiegersohn gewesen ist. Stattdessen wendet er sich um, geht zurück ins Stationsbüro, um bis Dienstschluss noch einige Seiten zu lesen.

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Früh.Stück. PDF

Mittwoch, 26. Oktober 1988. Ein halbes Jahr nach Paul Ammanns Ankunft in Trubschachen. Wie Lisa nach einem Telefonanruf gut schläft und schön frühstückt und so bereit ist für eine entscheidende Wende in ihrem Leben.

Lisas Telefon läutet. Abends um elf Uhr ist das ungewöhnlich. Auf dem Land schlafen die Leute um diese Zeit, oder sie denken, dass die andern schlafen. Auch die Tiere sind hier auf dem Land eher tagsüber krank als nachts. Das Telefon ist nun schon beim fünften Klingeln angelangt. «Lisa Leibundgut», sagt sie den Hörer abnehmend.

«Guten Tag, hier spricht Paul Ammann, ich bin der Kleinklassenlehrer.»

«Diese Stimme», denkt Lisa, «diese Stimme, sexy, aber richtig, nicht so geschleckt geschmeidig sexy ...» – «Ich weiss», sagt sie plötzlich etwas atemlos, «von Ihnen habe ich schon gehört von meinem Vater, dem Bahnhofvorstand.»

«Ach, der Bahnhofvorstand», kommt es erfreut durch den Hörer, «und das Schulkommissionsmitglied und der Karl-May-Leser. Also freundliche Grüsse an den Herrn Vater und auch an Winnetou, falls Sie mit ihm ebenfalls bekannt sind. Ich wollte fragen, ob ich mit meiner Schulklasse bei Ihnen einen Praxisbesuch machen kann zum Thema ‹Haben Tiere Gefühle?›»

«Gerne», sagt Lisa. Zögern und Zaudern gibt es bei ihr nicht, auch nicht in schwierigen Momenten. «Das ist aber ein schwieriges Thema.»

«Wir behandeln nur schwierige Themen», sagt Ammann. «Dann komme ich morgen um neun Uhr, wenn das recht ist.»

«Wow», denkt Lisa, «noch ein Kurzentschlossener», sagt: «Gute Nacht», und legt auf.

Sieben Stunden später. Lisa erwacht lächelnd, öffnet die Augen noch nicht. Sie hat geträumt, keine Ahnung mehr was, aber es war ein schöner Traum. «Sechs Uhr», denkt sie, steht auf, geht zum Fenster, die Augen immer noch geschlossen, und hört sich das Vogelgezwitscher an. Auch die Vögel haben heute gute Laune, das hört sie. Es wird also ein schöner Tag werden. Immer noch die Augen geschlossen, spitzt sie den Mund, pfeift mit; «L‘amour est un oiseau rebelle» aus Carmen pfeift sie und fügt sich damit nahtlos ins Vogelkonzert ein, geht dann unter die Dusche, lässt kaltes Wasser über sich laufen, bis es sie schüttelt vor Kälte, lächelt immer noch und geht nun nass und splitternackt zur Küche, setzt Kaffee auf, holt Speck und Eier aus dem Kühlschrank, auch Milch, stellt die Bratpfanne auf den Herd, wirft den Speck hinein und schlägt die Eier auf, schiebt zwei Scheiben Brot in den Toaster, schüttelt, während sie wartet, ihre Glieder, ihren Körper, ihren Kopf wie ein Hund, Wasser spritzt von ihrem dichten Haar in alle Richtungen, es zischt beim Kaffeetopf, es brutzelt in der Bratpfanne, es flunkert im Toaster. «Jetzt weiss ich endlich, woher der Ausdruck flunkern kommt», denkt sie, «genauso fühlt es sich an, wenn jemand flunkert, wie Wassertropfen auf den Glutdrähten eines Toasters.» Inzwischen riecht der Speck, wie er riechen muss, spiegeln die Eier, wie es sich gehört und die beiden Toasts haben ihren Hüpfer auch gemacht. Lisa giesst Kaffee ein, kalte Milch dazu, setzt in plötzlicher Lust den Krug mit der eiskalten Milch an den Mund und trinkt in grossen Zügen, schichtet Toast, Speck, Eier aufeinander und setzt sich nun mit nacktem Hintern auf das Taburett aus rohem Holz. «Es gibt kein besseres Gefühl als mit nacktem Hintern auf rohem Holz zu sitzen», denkt sie, «ob das in Trubschachen wohl ausser mir schon jemand gemerkt hat?»

Wieder einmal staunt Lisa darüber, dass sie nach Trubschachen zurückgekehrt ist. Das hätte sie nie gedacht, dass sie ihre Praxis bei diesen Holzköpfen eröffnen würde. Genau das hat sie aber getan, und wider Erwarten fühlt sie sich sehr wohl hier. Nicht, dass sie die Leute nun nicht mehr als Holzköpfe betrachtet. Je mehr sie von ihnen erfährt, umso mehr verstärkt sich dieser Eindruck. Das kann oft mühsam sein. Wenn ein solcher Knorz mit dem Schädel durch die Wand will, dann kann ihn kaum etwas davon abhalten. Auch wenn die Öffnung gleich daneben wäre. Wenn er nicht will, dann will er nicht.

Lisa hat aber schnell gelernt, damit umzugehen. Sie lacht einfach über so viel Starrsinn und denkt bei sich: «Wie der Muni, so der Herr», und dann passt alles sehr gut zusammen. Die misstrauischen Blicke, die ihr begegnen, nimmt sie schlicht nicht wahr. Auf ganz und gar unemmentalische Art geht sie durchs Leben, tut sie ihre Dinge, ohne links oder rechts zu schauen, weil sie sich gar nicht vorstellen kann, was andere denken könnten. Dabei kommt es schon mal vor, dass sie irgendwo die Nase anstösst, in etwas hineinrennt. Dann schüttelt sie innerlich und äusserlich den Kopf, wundert sich einen Augenblick und geht unbeirrt weiter ihres Weges.

Das muss das Erbe ihrer Mutter sein, sagen die Leute, vom Vater hat sie das nicht. Der Leibundgut steht mit beiden Füssen am Boden. Obwohl, man munkelt in der letzten Zeit, dass sich etwas verändert habe mit dem Leibundgut. Er sei nicht mehr wie früher. Das komme scheints vom Lesen, sagen die Leute, der lese doch jetzt immer Bücher, sogar bei der Arbeit, wenn das nur gut komme.

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Louis.Brot. PDF

Trubschachen, Schönbrunnen, Freitag, 10. Juni 1994, 12.20 Uhr. Die Zwillinge sind fünfjährig. Wie Ammann-Leibundguts essen.

«Buben, essen! Mann, essen!», ruft Lisa mit ihrer Kommandostimme, sonst hört das ja niemand.

Die Suppenschüssel steht bereits auf dem Tisch, als Leo voran, Louis im Kielwasser ins Zimmer stürmen, Paul wie immer als Letzter, ruhig, gelassen.

«Hände gewaschen?», fragt Lisa.

Und alle drei begeben sich ins Bad – Louis und Leo ohne Widerrede, Paul etwas zögerlicher, mit einem prüfenden und skeptischen Blick auf seine sauberen Hände. «Immer diese (verdammte) Hygiene», liest Lisa in seinem Kopf und muss lachen.

Der Suppentopf verströmt Karottengeruch, dringt in die Nasen der versammelten Familie. Louis schüttelt den Kopf, ist nicht geneigt, davon zu essen.

«Rüebli sind gut für die Augen», verkündet Leo.

Louis hält sich die seinen mit den Händen zu, blinzelt durch die Fingerspalten, um zu sehen, wie sich die Dinge entwickeln.

«Keine Suppe für Louis», entscheidet Paul, Louis braucht noch etwas Zeit mit den Karotten.

Lisa nickt, gibt ihren Segen zu dieser pädagogisch und protestantisch nicht ganz einwandfreien Haltung.

Leo löffelt zufrieden seine Suppe aus. Als der Teller leer ist, geht er zum Fenster, schaut so weit wie möglich in die Ferne, um sich an seinen umgehend verbesserten Sehfähigkeiten zu erfreuen.

Louis ist schon neben ihm, macht, was Leo macht, schaut ebenfalls in alle Richtungen, schaut dann in den Himmel hinauf, zieht mit dem ausgestreckten Finger die Flugbahn eines nur für ihn sichtbaren Vogels nach.

Leo sieht nichts, reibt sich die Augen, sieht trotzdem nichts, ist konsterniert. Auch für ihn sind die Rüebli ab jetzt vom Speiseplan gestrichen.

«Buben, zu Tisch!», befiehlt Lisa. Der Hauptgang ist inzwischen serviert: Blumenkohl, Kartoffeln, Jägerplätzli.

«Louis.Brot.», sagt eine Stimme. Es ist Louis, dem offenbar auch der Hauptgang nicht zusagt.

Alle lachen, so bestimmt kommt diese Aussage aus dem Mund des kleinen Jungen. Und niemand gerät ins Staunen darüber, dass Louis gesprochen hat, so selbstverständlich sind die Worte aus seinem Mund gekommen.

Erst Stunden später macht es klick bei Paul. Und erst dann gerät er in Verzückung und Aufregung. Und jedes Mal, wenn Louis etwas sagen wird, wird Pauls Herz lachen, umso mehr noch, als es feststellt, dass Louis sich nur mit Doppelwörtern ausdrückt, selten und in ganz wichtigen oder komplexen Angelegenheiten auch mal mit drei Ausdrücken. Niemals aber, nie wird Paul oder wird jemand anders ein Einzelwort aus Louis‘ Mund hören, genau gleich wie niemals Paul oder jemand anders – mit einer einzigen Ausnahme, die an der passenden Stelle ihren grossen Auftritt haben wird, mehr sei nicht verraten – jemals einen ganzen Satz aus Louis‘ Mund hören wird. Aber Louis.Spricht. und Paul ist entzückt und begeistert und möchte aufs Dach steigen und es laut in die Welt hinausrufen. Auch Lisa freut sich, hat viel früher geschaltet als Paul, sowenig sie aber ein Theater aus Louis‘ Schweigen gemacht hat, sowenig macht sie nun eines aus seinem Sprechen.

Tatsächlich und glücklich isst Louis seine Portion Fleisch mit drei Scheiben frischem Schwarzbrot. An jeder Scheibe riecht er zuerst, bohrt seine Nase mitten ins weiche Brot und macht einen tiefen, glücklichen Schnauf, beisst dann hinein, geniesst und lacht sein unwiderstehlich strahlendes Lachen, bricht ein Stück ab, tunkt es in die Sauce, bis es ganz aufgeweicht ist, und bietet es Leo an.

«Leo.Brot.?», fragt er.

Leo öffnet den Mund. Und Louis schiebt das Brot in den Mund. Leo kaut zufrieden.

Paul hat bereits seinen Mund geöffnet, die Augen geschlossen, wartet auf seine Speisung, die Louis mit Andacht durchführt. Nun kaut auch Paul zufrieden. Und Louis‘ Blick wandert zu Lisa. Sie lächelt und nickt. Und Louis schiebt ihr einen ganz kleinen Bissen, nur kurz in die Sauce getippt, zwischen die Lippen, genau wie sie es mag.

Lisa staunt und betrachtet ihren Erstgenannten nachdenklich – Abendmahl an einem gewöhnlichen Mittag.

Brot. wird zum geflügelten Wort in der Familie. Wenn jemand nicht einverstanden ist, sagt er einfach seinen Namen und dazu Brot.

«Leo, du räumst jetzt sofort dein Zimmer auf.» Leo hat aber keine Lust und sagt: «Leo.Brot.»

«Paul, kannst du die Steuererklärung ausfüllen?»

«Paul.Brot.»

«Lisa, backst du uns einen Schokoladekuchen?»

«Lisa.Brot.»

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