Wie wir mitten in der Handlung landen. Aber noch überhaupt nicht wissen, worum es geht.
«Es ist ein Mädchen», sagt der Bereitschaftsarzt Benjamin Stüssi, als er um vierzehn Uhr zwanzig in den Warteraum bei der Notfallpforte des Rosenhofspitals tritt. «Sind Sie der Vater? Ich gratuliere», sagt er zu dem jungen Mann, der dort in oranger Arbeitskleidung sitzt.
Es ist Fabio Cantona, 24-jährig, Belader bei der Kehrichtabfuhr in Worb.
Dieser versteht nicht.
«Und Sie müssen der Grossvater sein; gratuliere auch Ihnen», fährt Stüssi fort, zum anderen gewandt, der dort sitzt, auch in Arbeitskleidung, wenn auch blau und nicht orange. Auf einen Händedruck verzichtet er auch bei ihm lieber, beide sehen nicht ganz so sauber aus, wie man sich das in einem Spital wünscht.
Der andere ist Werner Burri, 54-jährig, Chauffeur bei der Kehrichtabfuhr in Worb.
Dieser versteht nichts.
Wie weiterhin das meiste unklar bleibt, aber die ersten Figuren etwas Kontur gewinnen.
«Tu sei una ragazza!», ruft Fabio, kräht er, als er das Spitalzimmer betritt, hineinstürmt, als gehe es um Leben und Tod. Geht es doch auch. In Fabios Leben auf jeden Fall. Als er das Neugeborene im Arm seines Freundes Erik sieht, wird er in einer Sekunde ganz still und ruhig.
Sanft, auch wenn es in ihm drin weiterhin brodelt. «Posso?», fragt er. Und schon hat er es auf seinen Armen, schaut hinab auf das winzige Gesicht, auf dieses kleine Ding, auf diesen Menschen, der noch ganz neu ist, noch nichts weiss, nichts kann, der Schutz braucht. Schon straffen sich seine Schultern. «Wie heisst sie?», fragt er und wendet sich wieder Erik zu. All die drängenden Fragen überfallen ihn von neuem, wollen aus ihm heraus. Dazu braucht er unbedingt seine Arme.
Zum Glück ist nun auch Werner im Zimmer. Er nimmt Fabio das Etwas ab, das Wesen, das Namenlose.
Sogleich beginnt Fabio zu fuchteln, verwirft die Arme, die Hände, die Augen, sein Mund kreuzt sich in drei Richtungen gleichzeitig. «Du bist eine Frau. Welch ein Glück!», ruft er endlich.
«Ich bin ein Mann», sagt Erik, sagt es so bestimmt, dass niemand an dieser Tatsache zweifeln kann.
Das ist zuviel für Fabio. Sein Gemüt kommt nicht mehr mit, es droht zu kollabieren und reagiert mit einem uralten Reflex: Flucht. Fabio dreht sich um, hierhin, dorthin, findet endlich die Türe und stürmt hinaus.
«Wie heisst sie?», fragt Werner in die Stille, fragt er in seiner ruhigen, bedächtigen Art. Zwar ist das alles auch für ihn etwas viel, sogar für ihn. Aber dass er sich aus der Ruhe würde bringen lassen, dazu bräuchte es dann noch etwas mehr.
«Wie heisst sie?», fragt Werner noch einmal.
«Ich weiss nicht», sagt Erik, «keine Ahnung. Ich wusste ja nicht, dass ich ein Kind bekomme. Ich muss mir das überlegen.»
Wie wir in die unmittelbare Vergangenheit zurückblicken und erfahren, wie alles (alles?) gekommen ist.
Den ersten Schmerz spürt Erik um neun Uhr siebenunddreissig. Es ist Dienstag, der 24. Mai 1988. Erik tut, als sei nichts, aber Fabio hat es gesehen, Fabio sieht alles.
«Erik, was ist los?», fragt er. «Hast du Schmerzen?»
Aber Erik will keinen Schmerz, jetzt nicht, nicht bei der Arbeit, er will weiter Kehrichtsäcke aufladen, Container leeren, die ganz normale Tour. Wenn Schmerz sein muss, dann am Abend, am Feierabend. Nicht jetzt und nicht hier.
Aber die Tour ist lang. Und bald schon kommt die nächste Welle. Erik muss sich setzen, auf den Rand der Lademulde. Die nächsten zehn Minuten macht Fabio die ganze Arbeit; zum Glück gibt es keine Container hier im Wohnquartier.
Werner Burri, der Chauffeur, hat gemerkt, dass im Rückspiegel nur mehr Fabio auftaucht. «Was ist los?», ruft er nach hinten. «Hat er wieder einen Kater?» Aber Fabio winkt ab, zeigt mit dem Daumen nach oben.
So fährt Werner getrost in seiner sanften Ruckelfahrt fort. Bald taucht Erik auch wieder im Rückspiegel auf, mindestens beim Leeren der Container. Zwei Stunden lang geht das so schlecht und recht; immer wieder bekommt Erik Bauchkrämpfe. Schliesslich wird es so schlimm, dass er nicht einmal mehr sitzen kann. Er muss sich in die Mulde legen. Fabio macht aus den Kehrichtsäcken, die dort liegen, ein bequemes Lager, soweit das möglich ist.
«Rosenhof!», ächzt Erik. «Wir müssen ins Spital.»
Jetzt packen Fabio Angst und Schrecken. Und die übertragen sich auf Werner, dass der für einmal seinen Motor aufheulen lässt, auf die Enggisteinstrasse einbiegt und ins Dorf hinunter rast und wieder hinaus Richtung Gümligen ... und kaum eine Viertelstunde später hält der Kehrichtlastwagen an der Notfallpforte des Rosenhof-spitals. Die ganze Zeit hat Fabio hinten auf dem rechten
Trittbrett gestanden.
Nun springt er ab und stürzt ins Spital hinein.
«Aiuto!», ruft Fabio. «Aiuto!»
Als die Notfall-Krankenschwester Andrea Jäger vors Spital hinauskommt und dort einen Kehrichtlastwagen sieht, stockt ihr vor Verblüffung der Atem, was in diesem Fall recht nützlich ist, riecht doch ein halbvoller Kehrichtlastwagen üblicherweise nicht gerade ... Sie wissen schon, was ich meine.
«Ein Verletzter», denkt sie und wird gleich wieder professionell. Schon hat sie zwei Hilfspfleger mit einer Rollbahre herangepiepst, schon eilt der Notfallarzt herbei, schon wird Erik aus der Mulde gehoben, Werner und Fabio haben den Hilfspflegern geholfen, schon ist Erik im Schlund des Spitalbetriebs verschwunden.
Nun sitzen Fabio und Werner im Warteraum und tun das, was dort von einem verlangt wird: Sie warten, eine Stunde, zwei Stunden, nichts als warten. Nur Werner hat kurz den Raum verlassen und den Kehrichtlastwagen umparkiert, ganz nach hinten auf den Besucherparkplatz. Er ist damit dem dringenden Wunsch von Andrea Jäger gefolgt. Jedesmal, wenn sich die Schiebetüre geöffnet hat, ist ihr ein Schwall dieser üppigen und gesättigten Müllluft entgegengekommen; für Werner und Fabio eine Art Heimatgeruch in dieser kalten und sterilen Umgebung, für sie aber so gewöhnungsbedürftig, dass sie beschlossen hat, einstweilen darauf zu verzichten.
Wie es an einem Mittwochnachmittag in einem Coiffeursalon zu- und hergeht.
Emile Leroy ist gerade dabei, letzte Hand an die Frisur des 12-jährigen Max zu legen. Mit der Ecke der Tondeuse schneidet er eine saubere Haarkontur, exakt fünf Millimeter Abstand zur Rundung der Ohrmuschel. Das ist Nidauer Standard, welchen Emile einzuhalten gelernt hat. Wenn man ihm aber freie Hand lässt, was auch ab und zu vorkommt, dann kann Emile zeigen, dass Haare schneiden eine Kunst ist.
Emile Leroy. Vor 15 Jahren hat es ihn aus Paris hierher verschlagen, niemand weiss warum, aber was sollte es anderes gewesen sein als die Liebe. So hat Nidau unverhofft einen charmanten, wenn auch eigenwilligen Figaro erhalten, der neue Trends nicht nur bedient, sondern sie manchmal auch kreiert.
Niemand, der diesem Emile auf der Strasse begegnet, diesem Mann mit den unbekümmert offenen Gesichts-zügen und der wilden Lockenpracht, die mit Mühe und Not zu einem Pferdeschwanz gebändigt ist, würde an einen Coiffeur denken, Bei vielen Leuten klingt etwas an, wenn sie ihm begegnen, aber nur wenige können es benennen: Er ist ein Musketier. Der zwar nicht den Degen schwingt, aber genauso elegant die Schere.
Er besucht jedes Jahr den Congrès international des maîtres stylistes in Paris; während einer Woche tauschen sich dort Coiffeurmeister aus verschiedenster Herren Länder – für einmal stimmt das tatsächlich, es sind lauter Herren-Coiffeure, die sich an diesem Kongress treffen – über die neusten Trends im Bereich der Herren-Frisuren aus. Dort hat Emile von einem afrikanischen Kollegen aus Abidjan gelernt, wie afrikanische Locken gemeistert werden können; Emile ist also jederzeit auf der Höhe seiner Aufgabe, auch wenn er seine afrikanischen Kenntnisse nur selten anwenden kann.
Warum er in Nidau geblieben ist, warum einer wie Emile an einem Ort wie Nidau leben will, ist eines der Rätsel, die nie gelöst worden sind. Obwohl ein grosser und namhafter Teil der Nidauer Bevölkerung versucht hat, das herauszufinden. Wenn man ihn direkt fragt, so zwinkert er einem so verschwörerisch zu, dass man nicht anders kann, als zurückzuzwinkern. Worauf man von ihm eines dieser Lächeln geschenkt bekommt, die noch Stunden später nachwirken und einen glauben machen, man sei Teil eines grossartigen Komplotts.
Emile macht also gerade den Finish an Max. Bei Erwachsenen geht er dabei langsam in einem 300-Grad-Bogen um den Stuhl und den sich darauf befindlichen Kunden herum und sprüht ihm dabei Eau de Cologne – nicht aus Köln, sondern aus Paris, darauf legt Emile wert – auf die Haare: Mit einer Hand deckt er das Gesicht des Kunden ab, mit der anderen Hand führt er die Parfumflasche mit der Sprühdüse in 30 Zentimetern Abstand am Kopf des Kunden vorbei und mit der dritten Hand bedient er den Gummiball, welcher mittels eines langen Schlauchs den Druck für das Versprühen des Parfums erzeugt. Noch niemand hat verstanden, woher Emile jeweils die dritte Hand für diese Prozedur hernimmt. Einige Frauen im Dorf aber würden bezeugen, dass bei der Liebe mit Emile ebenfalls eine dritte Hand im Spiel ist.
Aber zurück zum Finish an Max. Bei Buben, und darauf freuen sie sich alle von Anfang des Haarschnitts an, gibt Emile als Finish dem Coiffeurstuhl einen starken Schwung, und noch einen und noch einen, bis der Stuhl in eine kreisende Umlaufbahn gelangt, inklusive dem Buben, dann stellt sich Emile in elegante Pose, hebt majestätisch die schützende und die sprühende Hand und hüllt mit der dritten Hand das rotierende Bubenhaupt in einen Nebel aus Eau de Cologne. Schliesslich stoppt er den Stuhl, entfernt Halskrause und Schutzumhang mit grossem Schwung und bittet den Bub mit höflicher Geste, den Sessel zu verlassen, was dieser jeweils mit einem grandiosen Bauchgefühl und schlingerndem Gang versucht.
Die grösseren Buben wissen inzwischen, dass es völlig sinnlos ist, Französisch- oder Englisch-Vokabular vor dem Coiffeurbesuch zu lernen; alles an diesem Tag Gelernte ist nach der Karussellfahrt auf jeden Fall ausgelöscht.
«Der nächste bitte», sagt Emile. Nun ist Roland dran, dann warten noch der kleine Michael und der ebenso kleine Patrick auf der langen, mit rotem Kunstleder gepolsterten Wartebank. Alle ihre Mütter warten auf der anderen Strassenseite im Tea-Room Nelly, so ist das üblich in Nidau.
Übrigens würde es einem eingeborenen Nidauer Mann niemals in den Sinn kommen, an einem Mittwochnachmittag zum Coiffeur zu gehen, der ist für die Schulbuben reserviert.
Die Türklingel bimmelt, ein neuer Kunde. «Hinten ansitzen», sagt Emile ohne hinzuschauen, wie er das jedes Mal tut, wenn die Klingel am Mittwochnachmittag geht und er die Nidauer Jugend in Façon bringt.
«Was kostet ein Buben-Haarschnitt?», fragt eine helle Stimme. Nun schaut er doch hin, auch wenn er dazu weiterschneidet, blind, die Routine macht das möglich, und sieht ein kleines Mädchen an der Türe stehen, die leuchtend blonden Haare zu zwei schulterlangen Zöpfen geflochten.
«Einen Fünfliber plus dein Alter», sagt er automatisch, sagt dann: «Aber du bist ja ein Mädchen, du musst hinüber zum Salon Sandra, die ist für dich zuständig.»
«Ich will aber einen Buben-Haarschnitt», sagt das Mädchen in bestimmtem und keinen Widerspruch duldendem Ton. «Und ich bin sieben Jahre alt und ich habe mein Taschengeld und mein Geburtstagsgeld gespart und habe jetzt fünfzehn Franken, das reicht sogar noch für ein Trinkgeld», sagt sie stolz.
«Dann setz dich hinten an», sagt Emile, und wendet den Blick wieder Rolands Haupt zu, wo die Schere inzwischen ihr Werk in aller Meisterschaft allein fortgesetzt hat.
Und nachdem auch Michael und Patrick gestutzt und geputzt, gedreht und gesprüht sind, ist die Reihe an Erika.
Wie nach jedem Kunden wendet Emile das Sitzkissen, weil er weiss, dass niemand gerne auf einem von einem fremden Hintern angewärmten Stuhl sitzt, wendet also das Sitzkissen und legt dann, als er die Grösse der kleinen Person recht bedenkt, noch das Zusatzkissen auf.
«Bitte sehr», sagt er und will der Kleinen auf den hohen Sessel hinaufhelfen.
«Das kann ich selber», ruft sie. Wieder fällt Emile auf, wie bestimmt ihr Tonfall ist. Mit behänden Bewegungen schwingt sie sich auf den Stuhl.
«Flink bist du; und unerschrocken!», staunt Emile. «Ein Buben-Haarschnitt soll es also sein?»
«Genau, hinten kurz, Ohren ausgeschnitten, vorne Seitenscheitel.»
Emile greift zur Schere, packt den einen Zopf. «Bist du sicher?», fragt er.
«Sicher», sagt das Kind.
Emiles Schere schneidet, einmal links, einmal rechts. Und zwanzig Minuten später verlässt ein zufriedener und sichtlich stolzer Kunde Emiles Coiffeursalon. Auch er ist zufrieden mit seinem Werk. Erst etwas später kommen ihm einige Bedenken, ob da wohl alles seine Richtigkeit hatte.
Als das Telefon klingelt, befällt ihn leises Unbehagen, das er aber, wie er das immer tut, mit einer Portion Trotz bekämpft, auf Vorrat und Zusehen hin.
«Jemand hat meinem Mädchen die Zöpfe abgeschnitten. Waren Sie das?», fragt eine empörte, leicht hysterisch klingende Frauenstimme.
«Ja», sagt Emile. «Haare schneiden ist mein Beruf.»
«Aber Sie sind doch ein Herren-Coiffeur», tönt es wieder durch den Hörer. «Und sie ist ein Mädchen.»
«Aber sie wollte einen Buben-Haarschnitt. Und den hat sie bekommen. Einwandfrei.»
«Die schönen Zöpfe; einfach weg», jammert die Frauenstimme.
«Aber sie schien mir sehr zufrieden.»
«Sie schon, aber wir nicht; die hätten wachsen sollen bis aufs Füdli und bis zur Konfirmation. Und nun sind sie weg.»
«Aber sie sind noch hier», sagt Emile. «Wenn Sie sie abholen wollen.» Nun hört er nur noch Schluchzen durch den Hörer.
«Ach, es sind doch nur Haare», hört er sich sagen. Und hört sich damit seinen ganzen Berufsstand verraten. «Es sind nur Haare.»
«Aber jetzt sieht sie aus wie ein Bub, meine Erika.»
Und nun will Emile gar nichts mehr einfallen. Und er hängt den Hörer auf.
Wie Erik sich ein Leben schafft.
«Eine der Sozialwohnungen ist frei», sagt Jürg Schmid, als er kurz vor dem Stellenantritt mit Erik telefoniert, «du kannst dort wohnen, bis du etwas gefunden hast, aber nicht zu lang. Und dann gibst du sie sauber ab.»
«Gut», sagt Erik. Mehr fällt ihm nicht ein.
«Und wir sprechen nicht darüber», fügt er noch hinzu, weil er nicht sicher ist, ob der Junge verstanden hat, dass er hier seine Kompetenzen überschreitet – man kann nicht jemandem gleichzeitig eine Stelle als Gemeindeangestellter verschaffen und eine Sozialwohnung zuweisen, das eine schliesst das andere aus, bedeutet eine Kompetenzüberschreitung, die am besten im Dunkeln aufgehoben ist.
Erik nickt, ahnt aber mehr, als dass er versteht. Jedenfalls ist er froh, dass er irgendwo schlafen kann. Dann kommt ihm in den Sinn, dass der andere ja sein Nicken nicht sehen kann. «Gut», sagt er noch einmal. «Danke.»
Zwei Wochen später zieht er dort ein. Am nächsten Tag wird er seine Stelle bei der Kehrichtabfuhr antreten.
Die Wohnung befindet sich in einem Block in Rüfenacht. Sie ist sogar möbliert, allerdings ziemlich robust. Alles ist so massiv und so abwaschbar wie möglich. Dass einer hier nur solange bleibt wie irgend nötig, hängt nicht vom Geschmack des jeweiligen Bewohners ab, sondern von seinen Optionen; wer diese Wohnung sieht, denkt unweigerlich an vorzeitige Entlassung bei guter Führung.
Nun wird Erik hier wohnen, sein Hab und Gut hat er in einer grossen Reisetasche mitgebracht. Und das Wenige packt er gar nicht erst aus, nicht heute und auch nicht in den folgenden Tagen und Wochen.
Kehrichtabfuhr ist genau so, wie Erik sich das vorgestellt hat. Eine absolut sinnvolle Tätigkeit, für die es nicht mehr als zwanzig Minuten Ausbildung braucht.
Am Morgen um fünf vor sieben findet er sich beim Wüthrich-Fahrhof ein. Der alte Wüthrich hat von alters her ein Transportunternehmen in Worb und ist von ebenso alters her der Konzessionär für die Worber Kehrichtabfuhr.
Dort, beim Kehrichtlastwagen, warten schon Werner, der Chauffeur, und Christian, der rechtsseitige Belader.
Wie viel vor sieben Uhr Erik auch zur Arbeit kommt, immer warten sie bereits. Erik hat sich überlegt, ob er einmal schon um sechs Uhr früh zur Arbeit kommen soll, damit er es ist, der dort neben dem Kehrichtlastwagen steht und wartet. Aber getan hat er es noch nie. Und so werfen ihm Werner und Christian einen knappen Gruss zu und sind bereit für die tägliche Arbeit, Christian hinten auf dem rechten Trittbrett, Werner vorne in der Kabine.
Er, Werner Burri. Eigentlich ist er ja ein Bauer. Aber ein Bauer ohne Hof. Deshalb ist er Chauffeur bei Wüthrich Transporte. Am Feierabend ist er Schafbauer; seine Schafe weiden mal hier, mal dort. Burri hat ein scharfes Auge. Auf seinen Kehrichttouren sieht er mal hier eine Wiese, mal dort ein Bort, das nicht bewirtschaftet wird. Dort bringt er dann seine neun Schafe hin, stellt seinen mobilen Zaun auf und lässt die Schafe dort, bis das Land sauber gemäht dasteht. «Schafe machen das am besten, die fressen nicht nur die leckersten Gräser und Büschel weg, die räumen sauber auf, kürzen den Graswuchs genau auf drei Zentimeter. Wie mit der Tondeuse. Und der Dünger, den sie nachlegen, der ist nicht zu verachten.» Dass es ihm ernst ist mit dieser Aussage, lässt sich allein an deren Länge ablesen. So viel aufs Mal sagt Burri nur ganz selten. Nur wenn es um etwas Wichtiges geht. Um Schafe zum Beispiel.
So liebt er seine Schafe, er hat sie richtig gern. Wenn er aber eine Kuh sieht, wie sie dasteht, ruhig und gelassen, wenn er einer Kuh in die gewimperten Augen schaut, dann steigt etwas in ihm auf, ein Gefühl. Und er denkt ein, zwei Nächte darüber nach, ob er seine neun Schafe eintauschen soll gegen zwei Kühe.
Aber dann sieht er die Schwierigkeiten und lässt es bleiben. Die Schwierigkeiten sind Hanna und Ruth; Hanna ist das Leitschaf, und Ruth ist Werners Frau. Es hat schon viel Überzeugung gebraucht, bis Ruth mit dem Umbau der Garagen einverstanden war. Schliesslich ist es Ruths Elternhaus, in das sie vor zwanzig Jahren eingezogen sind. Es ist ein Einfamilienhaus mit angebauter Doppelgarage.
Das war damals, als Andreas, ihr erster Sohn, zur Welt gekommen ist. Ruths Eltern hatten ihnen Platz gemacht.Sie waren nach Bern gezogen, in ein Hochhaus, in den
23. Stock. Sie hatten sich damit einen Traum erfüllt. Doch das ist eine andere Geschichte.
Die zweite Schwierigkeit, und zwar die grössere, ist Hanna. Sie ist das Leitschaf. Sie hat so viel Verstand und Umsicht und Würde, dass mancher Gemeindepräsident sich von ihr ein Stückchen abschneiden könnte. Damit ist aber nicht das Gigot gemeint. Sie sorgt für Ruhe und Frieden in der kleinen Schafherde und sie verweist Bob, den alten und schon etwas vertrottelten Schafsbock, in die Schranken, wenn er versucht, so etwas wie den Chef herauszukehren.
Mit einem leichten Schubs ins Gesäss pflegt sie Werner auf Missstände hinzuweisen: Wenn der Wassertrog leer ist, wenn es kein Gläck mehr hat, wenn eines der anderen Tiere eine Verletzung hat.
Die Schafe wohnen in der Doppelgarage, die Werner für sie umgebaut hat, in der einen Garage ist der Schlaf-bereich, in der anderen der Wohn- und Essbereich.
«Schafe haben es gerne gemütlich», weiss Werner. Deshalb hat er die Wände rosa gestrichen und einige schöne Landschaftsbilder aufgehängt. Das weiss aber niemand, denn niemand hat den Stall je betreten. Ausser Ruth natürlich. Und ausser der Tierärztin von Trubschachen. Die ist aber verschwiegen, das weiss Werner.
Für den Transport der Schafe von Weide zu Weide hat er das Wohnmobil umgebaut, mit dem er früher mit Frau und Kindern in die Ferien zu fahren pflegte. Der hintere Teil ist nun eine Art Lounge, eine Schaflounge, mit Nischen, in die sich die Schafe während der Fahrt stellen oder legen können, damit sie nicht herumgeworfen werden. Wenn Werner das Schafmobil vor der Garage parkiert und die Stalltüre und die Seitentüre des Campers
öffnet, drängen die Schafe möglichst schnell heraus und steigen in das Wohnmobil. Nur Hanna behält die ihr eigene Würde bei und steigt als letzte in das Gefährt. Ihr Platz ist vorne neben Werner. Er hat beim Beifahrersitz
die Rücklehne entfernt, so dass Hanna die Vorderbeine über die Sitzfläche schieben kann und so zwischen den heruntergeklappten Seitenlehnen einen bequemen Halt hat.
Dass sich die Leute über ihn lustig machen, wenn er so durchs Dorf fährt, stört Werner schon lange nicht mehr. Er hat den Spott an den Stammtischen der verschiedenen Dorfbeizen so lange an sich abprallen lassen, bis er verstummt ist. Manchmal stellt er sich vor, wie es wäre, mit seinen Schafen in die Ferien zu fahren, nach Irland zum Beispiel, wo sich – wie er gehört hat – das Paradies der Schafweiden befindet: grüne Hügelzüge, vollkommene Freiheit für seine Schafe. Was aber wäre mit Ruth? Wenn doch Hanna den Beifahrersitz belegt? Auf diese Frage weiss er keine Antwort, also lässt er dieses Projekt im Bereich der Träume.
Werner liebt also seine Schafe wie niemanden sonst. Und trotzdem träumt er von Kühen. Das ist kein Widerspruch, es ist eine Realität. Es ist das Nebeneinander von etwas Gegebenem und etwas Möglichem, respektive etwas Unmöglichem. Ich esse meinen Cervelat mit Hochgenuss, obwohl ich noch lieber Bratwurst habe. Ich liebe meine Frau Ruth, obwohl ich noch lieber die Claudia
Cardinale hätte.
Kein Widerspruch also. Und wenn Werner seine zwei Kühe hätte, würde er vielleicht von einem Pferd träumen.
Und wenn er schliesslich ein Pferd hätte, wäre dann ein Elefant gewünscht.
Was allerdings die Kapazitäten des Wohnmobils sprengen würde. Da müsste er wohl den Kehrichtlastwagen umbauen. Er, Werner, wüsste auch schon wie: Die aufklappbare Lademulde könnte ganz bleiben, wie sie ist. Es müsste nur die hintere Press- und Abschlusswand des Stauraums entfernt und dafür eine ausfahrbare Schrägrampe eingebaut werden. Dann könnte die Elefantendame bei aufgeklappter Lademulde rückwärts über die Schrägrampe in den Stauraum hineinschreiten. Wenn dann die Lademulde heruntergeklappt wäre, müsste diese nur noch mit frischem Futter gefüllt werden, dann könnte Werner mit seinem Elefanten bequem in der Welt herumreisen, nach Afrika zum Beispiel. Wo er noch nie war. Und Ruth auch nicht. Aber für sie hätte es ja genug Platz in der LKW-Kabine.
Werner hat eine besondere Fähigkeit: seine Langsamkeit. Er macht alles mit äusserster Bedächtigkeit und Ruhe. Wenn man ihm zuschaut, würde man denken, dass bei ihm alles doppelt so lang dauert. Wenn man aber lange genug um ihn herum ist, merkt man: Das Gegenteil ist der Fall.
Es stellt sich heraus, dass seine Langsamkeit eigentlich Sparsamkeit ist; er betreibt nur den nötigsten Aufwand, um an ein Ziel zu kommen. Das wirkt dann zwar langsam, ist aber sehr effizient.
So ist Werner mit der Kehrichttour immer früher fertig als sein Kollege Peter. Dieser fährt die Tour, wenn Werner Ferien hat, sonst fährt er einen von Wüthrichs Mulden-Lastwagen. Wenn sie mit Peter fahren, das haben Erik und Christian gemerkt, dauert die Tour mindestens eine halbe Stunde länger. Wie kommt das? Es hängt mit dem Fahrstil der beiden zusammen. Peter fährt nervös, dynamisch nennt er selber seinen Fahrstil, gibt tüchtig Gas, bremst scharf, hält, gibt wieder Gas. Bei Werner geht das ganz anders. Er fährt sachte, so sachte, dass die beiden Belader sich nicht festzuklammern brauchen, dass sie Anfahren und Bremsen nicht mit ihrem Körper auffangen und ausgleichen müssen. Dadurch sind sie schneller vom Wagen runter und wieder drauf. Wenn es nur wenige Säcke am Strassenrand hat, hält Werner gar nicht ganz, ganz fein lässt er den Wagen weiterrollen. Mit dieser Fahrweise gewinnt er Zeit. Und spart damit erst noch Benzin; er braucht nur zwei Drittel vom Diesel, den Peter braucht. Zum Glück für Peter hält der alte Wüthrich nichts von Verbrauchsstatistiken.
Erik und Christian bilden also das Beladerteam der Gemeinde Worb. Sie sind Gemeindeangestellte, gehören zur Werkgruppe, die für den Unterhalt der Gemeinde-strassen und der Tiefbauanlagen zuständig ist. Früher gab es einen Turnus in der Werkgruppe, dass von Woche zu Woche zwei andere als Belader arbeiteten. Vor einigen Jahren hat sich der alte Christian Ramseier dann einen fixen Beladerposten gesichert. Und nun ist Erik zu Christians fixem Kompagnon geworden. Einerseits, weil er ja genau das gewollt hat, und andererseits, weil allen in der Werkgruppe rasch klar geworden ist, dass Schaufel und Pickel nicht so recht in die Hände dieses jungen Mannes passen wollen.
So ist Erik linksseitiger Belader geworden. Christian ist der rechtsseitige Belader, der in der Hierarchie etwas höher steht, weil er die Containerhydraulik und das Presswerk bedient und per Handzeichen mit dem Fahrer kommuniziert. Der rechtsseitige Belader muss aber auch mehr leisten, weil er immer absteigt, während der linksseitige Belader ab und zu zuschauen kann, wenn es nur vereinzelte Kehrichtsäcke am Strassenrand hat. Schon nach einem halben Jahr tauschen sie, ohne weiter darüber zu reden, die Plätze, so ist es nun Erik, der an den Schalt-hebeln steht.
Erik bildet mit Christian ein gutes, wenn auch schweigsames Team. Trotzdem erfährt Erik nach und nach einiges aus Christians Leben.
Christian Ramseier kann nicht lesen und schreiben. Er hat es in der Schule nie richtig gelernt, weil er nie richtig zur Schule gegangen ist. Seit er denken kann, hat er gearbeitet, zuerst zu Hause, und seit er 14 Jahre alt war als Knecht bei einem Bauern. Dass er nicht lesen und schreiben kann, hat niemand gemerkt. Nicht einmal an der Aushebung und auch in der Rekrutenschule nicht. Zeit seines Lebens hat er in der Arbeitspause den Klatsch gelesen. Wenn ihn dann jemand gefragt hatte, ob es etwas Neues gebe, hat er ihm einsilbig die Zeitung hingestreckt: «Selber lesen macht gescheit!»
Ins Staunen kam Erik, als Ramseier ihm erzählt hat, er habe bis vor zwei Jahren nie Unterhosen getragen, nicht einmal gewusst, was das sei. Dann habe er einmal zum Arzt müssen, zum alten Siegfried. Zu dem mit dem weissen Porsche 911. Der habe aber eine junge Arztgehilfin gehabt, eine apartig Schöne sei das gewesen. Und eine Liebe. Mit der habe er dann in den hinteren Raum müssen, wegen Röntgen. Und dann habe die ihm gesagt, er solle sich ausziehen. Also habe er das Hemd ausgezogen. Die Hose auch, habe sie dann gesagt, und sei hinausgegangen. Also habe er dann die Hose ausgezogen und sei nackt dagestanden, wie ihn der Herrgott geschaffen habe. Dann sei die Artzgehilfin aber bös erschrocken, als sie wieder hereingekommen sei, mit etwas in Haushaltpapier Eingewickeltem, Blei sei das gewesen, zum Schutz seiner Eier; dieses Blei habe sie ihm in die Unterhosen legen wollen; dann habe sie nicht gewusst, was machen und er habe gesagt, es gehe bei ihm auch ohne Blei. Sie aber sei nach draussen gegangen und mit einem Paar weisser Unterhosen zurückgekommen, mit feinen Streifen, wahrscheinlich vom alten Siegfried. Und dann hätten sie geröntgt, richtig, mit Blei und allem. Die Unterhosen habe er behalten können. Und von da an habe er sie immer angezogen, wenn er zum Arzt sei. He ja, man wisse nie, wann man dort die Hose ausziehen müsse.
Soviel zu Christian. Dass das ein fast idealer Arbeitskollege für Erik ist, liegt auf der Hand.